Anleitung zum Selbstversuch. Baedekers erste Rheinreise als künstlerischer Exkurs
Das Interesse an einem diese Strecke erläuternden Buch war von Anfang an groß, zumal bereits 1827 der regelmäßige Schifffahrtsverkehr zwischen Köln und Mainz mit der Preußisch-Rheinischen Dampfschifffahrtsgesellschaft aufgenommen worden war. Röhlings Verlagshaus lag nur einen Steinwurf von der Anlegestelle entfernt. Als Baedeker den Röhling-Verlag übernahm, erweiterte dieser die Publikation 1832 zunächst um eine den Rheinlauf vorstellende Landkarte. Deutlich überarbeitet publizierte er die Reisebeschreibung 1835 erneut, indem er die »Rheinreise« um die Strecken nach Basel bzw. Rotterdam ausdehnte. Diese bildete den Grundstein für Baedekers vielzählige Publikationen zum Thema des individuellen Reisens und Bildens, indem er von nun an immer neue touristisch erschlossene Routen und Ziele vorstellte. Sie steht ganz im Kontext der gerade erst aufkommenden Rheinromantik, mit der Entdeckung von Burgen, Schlössern und Altertümern längs des Rheins, was bald internationales Publikum anzog. Baedekers erster Rheinreiseführer „Rheinreise von Mainz bis Cöln, Handbuch für Schnellreisende“, bildet die Grundlage des aktuellen Kunstprojektes, in dem Topographie und Topos im Vordergrund stehen.
Die beiden Künstler, Stephan Kaluza und Ingo Bracke, haben sich bereits zuvor intensiv mit dem Rhein als Sujet auseinandergesetzt. Stephan Kaluza dokumentierte den gesamten Rheinverlauf mit 21.000 Fotos in seinem aufsehenerregenden Rheinprojekt (2007) und Ingo Bracke inszenierte und illuminierte durch mehrere Interventionen den Loreley-Felsen (Loreley-Tetralogie, seit 2008). Beide Künstler greifen in ihren Werken unterschiedliche Momente auf, die bereits in Röhlings bzw. Baedekers früher Publikation – am Beginn eines großen Reisebooms – eine Rolle spielten: den Topos Landschaft, die Anschaulichkeit der Landschaft in der individuellen Wahrnehmung (epische Dauer, scheinbarer Gleichfluss) im Kontrast zu Vergänglichkeit und Schnelllebigkeit durch die Art des modernen Reisens.
Stephan Kaluza greift aus seinem Rheinprojekt auf den Streckenabschnitt zurück, den Baedeker thematisiert und zeigt ihn in seiner Streckendimension als fotografische Dokumentation, in der die Topografie und die jeweiligen Gegebenheiten die Hauptrolle spielen. Das Ganze beruht auf der Idee des reinen Arbeitsprozesses und seiner Materialien, die summarisch ausgebreitet werden. An bestimmten Punkten werden Hörstationen mit Texten von und zum Rheinprojekt hörbar sein.
Ingo Bracke befasst sich mit der Idee der Dioramen und Panoramen, die gerade im aufkommenden 19. Jahrhundert eine enorme Rolle in Bezug auf die Wahrnehmung von Landschaft gespielt haben. In seinen Raumarbeiten wird er seinen persönlichen Reisefilm erlebbar machen, den er während einer Zugreise von Mainz bis Koblenz aufgenommen hat. Zufälliges, Bildstörungen, aber auch längere Passagen des Landschaftlichen, Geräusche im Zug ebenso wie das leise Rattern der Zugräder vermischen sich mit Klängen der „Loreley-Oper“ von Fredrik Pacius, uraufgeführt 1887.
Gefördert im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz, sowie von der Koblenzer Kulturstiftung, dem Verein der Freunde Freundinnen und Freunde des Mittelrhein-Museums und des Ludwig Museums zu Koblenz e.V., dem Koblenzer Kulturverein e.V. sowie durch private Spenden.
Ingo Bracke – Loreley Tetralogie
Im Rahmen der Ausstellung wandelte Ingo Bracke auf den Spuren von Karl Baedeker, dessen Reiseanleitung vom Rhein er selbst nachspürte. Anders als Baedeker nutzte der den Zug und fuhr von Bingen nach Koblenz, dabei filmend das vorbeiziehende Rheintal mit all seinen Zufälligkeiten und Unterbrechungen, mit einigen touristischen Ausblicken und landschaftlichen Höhepunkten einfangend. Ähnlich auch wie Stephan Kaluza ging es ihm nicht um die „schöne Aussicht“, um das Erhabene, sondern um die eher gleichmäßige Perspektive aus dem fahrenden Zug, dessen Geräuschkulisse er dabei ebenso wie das Zufällige des Augenblicks damit einfängt. Ingo Bracke, der sich bereits seit mehr als zehn Jahren intensiv mit dem Loreley-Felsen auseinandersetzt, liefert mit seinen Handyvideos nur eine Facette des Baedeker-Reiseführers, denn indem er den Loreley-Felsen erneut ins Zentrum seiner Auseinandersetzung stellt, thematisiert er diesen sowohl als geographischen Höhepunkt im Mittelrheintal als auch dessen Mythos in der literarischen wie musikalischen Reflexion. Deshalb tauchen in seiner komplexen Rauminszenierung viele einzelne Versatzstücke des touristischen Reisens auf wie z.B. Spielzeugeisenbahnen, eine holzgeschnitzte Madonna, die das katholische Rheinland des 19. Jahrhunderts symbolisiert, die Verwendung historischer Postkarten, die das Moment des Idyllischen einfangen und die Attraktion für den Reisenden heraushebt, die er gleichsam am Strom entlang entwickelt und über die ein Lan-Kabel die Verbindung zum digitalen Zeitalter herstellt. In seinen Zeichnungen, Skizzen und Gemälden überhöht er erneut den Topos der Loreley und lässt gedanklich das berühmte Gedicht von Heinrich Heine „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ (1824) anklingen, auf das sich sein eigener Zyklus von Lichtinstallationen an der Loreley bei St. Goar bezieht. Auf den legendären Felsen projizierte er vielfach Wörter aus dem Gedicht, Fragmente, die sich im „Ich“, „Licht“ und „Du“ einlösen lassen. Es ist ein komplexes Rätselgebilde, das sich gegenseitig spiegelt.
Ingo Bracke liefert hier einen Blick in eine magische Welt der Legenden und Mythen, die insbesondere durch die Ankurbelung des Tourismus, wie sie Karl Baedeker mit seinem ersten Reiseführer bereits 1835 anregte, Nahrung fand. Erst durch die Reisenden wurde das Rheintal weltberühmt, konnte wirtschaftlicher Aufschwung jenseits der reinen Handelsroute von Basel bis Rotterdam geschehen. Das Reisen im industriellen Zeitalter büßte dabei nichts von der eigentlichen Romantik des Reisens ein, die das Individuum für sich selbst entdeckte. Bei Ingo Bracke ist es in mehrfacher Hinsicht jedoch ein Brechen mit der Reiseromantik und dem Mythos, der als narratives Gedankengut noch immer lebendig ist. In einer komplexen Verschiebung der Blick- und Erlebnisachsen generiert er sowohl das historische Blickfeld des 19. Jahrhunderts, die Pathetik der Naturromantik und ihre kommerzielle Nutzung als auch die Veränderung der Landschaft im Industriezeitalter und das Reisen als Surrogat flüchtiger, digitaler Wahrnehmung im Handyformat.
Stefan Kaluza – Das Rheinprojekt
Innerhalb seines Rheinprojektes, bei dem sich Stephan Kaluza 2005-2006 aufmachte, den gesamten Rheinlauf abzuwandern und fotografisch festzuhalten, schritt er zwischen Mai und Juni 2005 auch jenen Streckenabschnitt ab, den Karl Baedeker für seine erste Publikation im eigenen Verlagshaus in Koblenz beschrieb. Kaluza wandert diese rund 100 km innerhalb dieser wenigen Wochen fotografierend ab und entwickelt über diese Strecke einen ganz eigenen Blick auf den Flussverlauf. Es ist die einmalige Chance, den Verlauf des Stromes gleichsam vor dem eigenen Auge abzuscannen, weil alle 70 Meter ein neues Foto aufgenommen wurde. Somit erschließt sich die Sequenz des Flusses, seiner Vegetation und bestimmter architektonischer Gegebenheiten, mitunter sogar Momentaufnahmen von vorbeifahrenden Schiffen oder Zügen. Der Blick durch die Kameralinse bleibt begrenzt auf den Ausschnitt, der nicht korrigiert oder erweitert wird. Das Ausschnitthafte bleibt dabei ebenso Programm wie auch gelegentlich der geweitete Blick auf den Fluss. Für dieses Bildkonzept ist ein ebenerdiger Standpunkt wichtig, mit dem verknappten Blickwinkel, den solch ein Standpunkt dem bloßen Auge erlaubt. Es spiegelt die Unbestechlichkeit der scheinbar objektiven Kameralinse wieder, die nichts anderes wiedergibt als das, was sie vorfindet. Der subjektive Eingriff durch den Fotografen ist scheinbar unmöglich. Die überbordende Flut an Bildern gibt das Moment des Abwanderns der Landschaft ebenso wieder, die hier aber – anders als bei Karl Baedeker – nicht auf Sehenswürdigkeiten oder Besonderheiten abhebt, sondern lakonisch den „Ist-Zustand“ dokumentiert. Das sukzessive Erschließen der Landschaft, in ihrer eigenwilligen Ausschnitthaftigkeit, vermittelt sich dem Betrachter als Nachempfindung des Gehens in der Landschaft selbst, aber in der Art der Präsentation auch als die reine Dokumentation eines immensen Bildarchivs, das eigentlich nicht mehr fassbar ist für eine Bildbetrachtung.
Stephan Kaluza lässt den Bildbetrachter somit einerseits teilnehmen an diesem sehr einzigartigen topografischen Kunstprojekt, das selbst oszilliert zwischen Landschaftsfotografie und reiner Fotodokumentation und gibt ihm anderseits das Scheitern mit an die Hand, diese Flut an Bildern überhaupt fassen zu können. Es ist darüber hinaus der geschickte Turn zwischen dem klassischen Topos der Landschaft, ihrer Entgrenzung in der Ansammlung von über 21.000 Fotos und der durch technische Bildmedien längst umgemünzten Wahrnehmung derselben. Diese scheint gleichsam entrückt. Das Foto ist nur ein Surrogat von Landschaft und in dieser engmaschigen Sequenzierung der Bildfolge ein Herunterbrechen auf ein komprimiertes Seherlebnis. Alles erscheint wie im Zeitraffer, der das Erfahren von Landschaft, Raum und Dauer obsolet werden lässt. Vielmehr rückt Stephan Kaluza in seiner aktuellen Präsentation die fotografische Erfahrung – als Erlebnis und Wahrnehmung des Rheinverlaufs - in den Bereich des Archivs, zudem in die digitale Dokumentation, die einer physischen Präsenz nahezu entbehrt. Sie nimmt den Charakter einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit an, die in Nuancen jedoch dem Interesse von Karl Baedeker auf einer zeitgenössischen Ebene entspricht
Prof. Dr. Beate Reifenscheid, Direktorin des Ludwig Museum Koblenz
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